Im Schoß der Dunkelheit wird das Licht geboren. So erzählen es die alten Geschichten. Auch wir erblicken das Licht der Welt aus der Dunkelheit kommend, die unsere erste Wirklichkeit, das Geheimnis allen Werdens ist. Dunkelheit ist unbewegt, abwartend, undurchsichtig. Sie schluckt, verdeckt, löscht, absorbiert und verschmilzt, wie Rainer Maria Rilke sagt, „die Vielheit in ein Einziges“. 

Vielen Menschen bereitet die Dunkelheit Unbehagen, weckt sie doch Urängste in uns. Die Angst vor der Gefahr aus dem „Nichts“. Die Angst vorm Alleinsein, vor den eigenen dunklen Gedanken und Gefühlen, die wir nie so deutlich wie im Dunkeln „sehen“ und spüren. 

Und genau das macht die besondere Kraft der Dunkelheit aus, die Chance, die sie uns eröffnet. Da wo vorher eine Schwärze, tief wie das Nichts war, begegnen wir uns selbst, unbehelligt vom außen, vom Licht. Tauchen wir bewusst in die Dunkelheit ein, geben uns ihr hin, schauen uns in ihr um, offenbart sie nach und nach das Licht, das in ihr oder in uns selbst liegt. So kann sie zur Quelle der Verwandlung und Inspiration werden, die uns heilen und wachsen lässt und die wir immer wieder aufsuchen können. 

“Du Dunkelheit, aus der ich stamme, / ich liebe dich mehr als die Flamme, / welche die Welt begrenzt“, schreibt Rainer Maria Rilke in seinem Gedicht „Du Dunkelheit“, das mit den Worten endet: „Ich glaube an Nächte.”

Auch ich glaube an Nächte und habe eine von ihnen in meinem Foto festgehalten. Im dunklen Wald verschwimmen die Konturen, die Baumsilhouetten heben sich nur undeutlich vom Hintergrund ab. Und gleichzeitig zeigt die untergehende Sonne, wohin der Weg gehen, wie sich zu einem späteren Zeitpunkt wieder alles wandeln und zu Licht werden kann. Bei der Wahl des Trägermaterials für dieses Motiv habe ich mich bewusst für Acrylglas entschieden, das eine besondere Tiefe und Leuchtkraft besitzt.

Vor dem Bild stehend, spiegelt sich für die den Betrachter*in der Raum, der es umgibt, vermischt „innen und außen“, die zweite und dritte Dimension und verleiht dem Bild etwas Geheimnisvolles. Das tun auch die drei gelben Klebestreifen, die in unterschiedlicher Breite und Länge das Bild zieren. Inspiriert hat mich dazu die Stil-Richtung des „Tape-Art“, bei der Künstlerinnen und Künstler ganze Räume, Wände und Werke aus bunten Klebestreifen gestalten. Minimalistisch war mein Ansinnen. Drei gelbe Streifen. Wie Licht, das die Strahlen der Sonne aufgreift und eine weitere Dimension eröffnet, anfassbar wird. Und damit gleichsam symbolisiert, dass wenn wir uns bewusst und aktiv mitten in die Dunkelheit begeben, ein Licht entstehen kann, das tief aus dem Inneren kommt und über das äußere Strahlen hinaus wirken kann.

Lasst uns die Dunkelheit als Freundin betrachten, die uns die Chance gibt, klarer zu sehen, was im Verborgenen ist, es ans Tageslicht zu holen, damit Frieden zu schließen und so unsere volle Strahlkraft zu entfalten. Die Dunkelheit kann uns stärken und wir können sie jederzeit aufsuchen. So wie es der Musiker und Songwriter Paul Simon besingt „Hello, darkness, my old friend / I’ve come to talk with you again“…